March 1, 2023

"Der Krieg schadet dem Regime und der Elite"

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Am 24. Februar begann Russland einen Angriffskrieg auf die Ukraine, wie ihn Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat. Dieser Text ist Teil unseres Schwerpunkts [https://www.zeit.de/thema/krieg-in-ukraine] zum Jahrestag der russischen Invasion.

ZEIT ONLINE: Frau Schulmann, das letzte Mal, als wir uns trafen [https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-05/russland-bevoelkerung-flucht-ukraine-krieg-interview], haben Sie eine Hoffnung geäußert: Das Symbol Z stünde nicht für die ganze russische Gesellschaft. Wie viel ist von dieser Hoffnung noch übrig, ein Jahr nach Beginn des Krieges?

Jekaterina Schulmann: Als Politologin weiß ich, worin das russische Machtsystem gut ist: darin, eine Show abzuziehen, Wahlen zu imitieren. Es war gut darin, seine Bürger zu entpolitisieren. Aber das Putin-Regime ist nicht gut darin, einen Krieg gegen ein anderes Land zu führen. Die vollständige totalitäre Transformation der russischen Gesellschaft hat auch heute, ein Jahr nach dem Überfall auf die Ukraine, noch nicht stattgefunden. Wir sehen stattdessen, dass die Gesellschaft sehr wohl Widerstand leistet. Nicht auf den Straßen, sondern stiller, durch Umgehung oder Flucht. Dadurch gerät das ganze politische System unter erheblichen Druck.

ZEIT ONLINE: Wie zeigt sich dieser Druck?

Schulmann: Nehmen Sie die Mobilisierung. Ich bin keine Militärexpertin, aber ich interessiere mich für die bürokratischen Abläufe. Die Mobilisierung wurde gemeinsam von der zivilen und der militärischen Bürokratie organisiert. Sie ist nicht krachend gescheitert. Aber sie brachte die Gesellschaft an den Rand der Panik. Die Zustimmung zum Präsidenten, zur sogenannten militärischen Spezialoperation, ist deutlich zurückgegangen. Außerdem führte die Mobilisierung zu vielen Formen der stillen Sabotage, etwa in den Regionalverwaltungen.

JEKATERINA SCHULMANN

gilt als eine der wichtigsten Stimmen der russischen Politikwissenschaft und Expertin für das russische Machtsystem. Sie war unter anderem außerordentliche Professorin an der Moskauer Schule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Im April 2022 hat sie mit ihrer Familie Russland verlassen, das russische Regime stuft sie mittlerweile als ausländische Agentin ein.

ZEIT ONLINE: Wie sah diese Sabotage aus?

Schulmann: Die Betroffenen wurden oft gewarnt. Vielen wurde gesagt: Sie werden zu dir kommen, also sei besser nicht zu Hause. Mach nicht die Tür auf. Oder sie haben nur so getan, als hätten sie die Einberufungsbefehle ausgeliefert. Erinnern Sie sich an die Bilder von Männern, die auf der Straße in Moskau festgenommen wurden? Warum haben sie das gemacht? Weil die Verwaltung in Panik war. Weil sie nicht genug Leute mobilisieren konnten.

ZEIT ONLINE: Bedeutet das, dass wir uns im Westen ein falsches Bild vom Widerstand in Russland machen, von der Zustimmung zu diesem Krieg?

Schulmann: Das zu erklären, ist nicht einfach. In einer derart unfreien Gesellschaft wie Russland gibt es so etwas wie "Unterstützung" nicht. In einer Autokratie stellst du dich am besten nicht in den Weg, um Repression zu vermeiden. Viele Russen sind in die innere Emigration gegangen. Sie versuchen so zu tun, als wären sie jemand anderes, und distanzieren sich von den realen Ereignissen. Sie halten nur noch Kontakt mit den engsten Angehörigen und schauen keine Nachrichten mehr.

Jekaterina Schulmann © Jacobia Dahm für ZEIT ONLINE


ZEIT ONLINE: Kann dieser stille Widerstand für Wladimir Putin gefährlich werden?

Schulmann: Zu Anfang profitiert das System sogar davon. Autokratien ermuntern zur Emigration, innerlich oder äußerlich. Das verringert den sozialen Druck immens. Aber wenn man plötzlich eine Gesellschaft für einen Krieg mobilisieren will, die das Regime in den vergangenen 20 Jahren in jeder nur erdenklichen Form demobilisiert hat, dann bekommt man Probleme.

ZEIT ONLINE: Wie lange kann Putin diesen Krieg noch führen, wenn es diese sanfte Form des zivilen Ungehorsams gibt, aber auch keine wirklichen Erfolge an der Front?

Schulmann: Ich glaube, die größte Hoffnung für die militärische Führung besteht vorerst darin, in der Ukraine weitere große Verluste, wie Cherson, zu vermeiden. Obwohl Cherson auch der russischen Bevölkerung herzlich egal war, wie wir aus Umfragen wissen. Aber solche Niederlagen demoralisieren die Elite. Das autoritäre System hat einen Überlebensinstinkt und möchte eigentlich zu seinem alten Status quo zurück. Das russische Regime und die russische Gesellschaft bauen auf keiner Ideologie auf – anders als etwa die Sowjetunion oder Nazideutschland.

"Die große Kriegsmüdigkeit ist noch nicht sichtbar"

ZEIT ONLINE: Was treibt sie stattdessen an?

Schulmann: Die russische Gesellschaft baut auf individuellem Erfolg und Konsum auf. Das mag seltsam für Sie klingen, aber warum ziehen einige Russen freiwillig in den Krieg? Des Geldes wegen! Die sozialen Anreize sind beispiellos hoch! Aber es ist nicht nur das Geld, sondern das ganze System aus Privilegien, Steuererleichterungen, Uni-Plätzen für die Kinder. Das ergibt alles Sinn. Wenn auch in einem tragischen Sinn.

ZEIT ONLINE: Angesichts der hohen russischen Verluste fragt man sich aber schon, wie das System so stabil sein kann? In den ersten Kriegswochen sollen schon so viele russische Soldaten gefallen sein wie sowjetische Soldaten in insgesamt zehn Jahren Afghanistan-Krieg. Damals hat das bekanntlich den Zusammenbruch der Sowjetunion beschleunigt.

Schulmann: Ein Jahr ist keine lange Zeit. Das mag zynisch klingen, aber die große Kriegsmüdigkeit ist noch nicht sichtbar. Nach drei, vier oder fünf Jahren wird es wahrscheinlich anders aussehen. Was aber interessant ist: Die russische Führung versucht den Eindruck zu vermitteln, sie hätte in der Ukraine – im Gegensatz zum Westen – alle Zeit der Welt.

ZEIT ONLINE: Hat sie nicht?

Schulmann: Abgesehen von den Menschen, für die es soziale Anreize gibt, in den Krieg zu ziehen, zweifle ich, ob es wirklich noch viele Russen gibt, die sie mobilisieren können, ohne das System komplett zu destabilisieren. Über eine zweite Mobilisierung wird schon lange spekuliert – aber es gibt sie bis heute nicht. Vielleicht tut Wladimir Putin mit diesem "Auf-Zeit-Spielen" genau das, worin er besonders gut ist: den Schein wahren.

Friedhof in Rjasan, südöstlich von Moskau, unter dem Schnee das Grab eines russischen Soldaten © Nanna Heitmann/The New York Times/ Redux/laif

ZEIT ONLINE: Den Schein wahrt Putin auch mit dem Ausdruck der "militärischen Spezialoperation". Glaubt das noch irgendjemand in Russland?

Schulmann: Der Ausdruck soll den Eindruck erwecken, dass es sich hier bloß um die Wiederholung der Krim-Annexion handelt, nur in größerem Maßstab. Aber inzwischen fragen sich viele: Wie lange wird diese Operation noch dauern? Die Putin-Rede diese Woche hat uns eine Antwort darauf gegeben.

ZEIT ONLINE: Welche?

Schulmann: Wladimir Putin sagte: Das ist kein richtiger militärischer Krieg. Sondern eine historische existenzielle Auseinandersetzung der russischen Zivilisation gegen den Westen. Aber macht euch keine Sorgen! Ihr werdet an dieser Auseinandersetzung wachsen. Spirituell. Und wirtschaftlich. Wir werden dafür sorgen, dass es euch gut geht. Wir werden euch finanzieren. Neue Unternehmen werden entstehen. Wir werden uns um eure Familien kümmern. Und ihr werdet gute Staatsposten bekommen, wenn ihr euch tapfer an der Front schlagt! Es ist also keine Operation, die einen klaren Anfang, eine Mitte und ein Ende hat. Sondern ein Dauerzustand.

ZEIT ONLINE: Sie haben davon gesprochen, dass das System von außen unter Druck geraten ist. Wie sieht es denn von innen aus? Gibt es schon Akteure, die sich von Putin distanzieren? Und: Wie gefährlich ist der Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin für ihn?

Schulmann: Prigoschin ist für ihn überhaupt keine Bedrohung. Während sich seine Söldner mit den regulären Streitkräften streiten, zweifelt niemand an der Autorität des Oberbefehlshabers oder an der Notwendigkeit des Krieges selbst. Aber generell ist die Loyalität der Eliten die Frage aller Fragen. Auch hier liefert die Rede des Präsidenten in dieser Woche interessante Anhaltspunkte. Politischer Wandel findet in autoritären Systemen nur dann statt, wenn das Establishment davon ausgeht, dass eine Veränderung mehr in seinem Interesse ist als der Status quo. Es gehört leider ins Reich der Märchen, dass autoritäre Systeme von Protesten gestürzt werden. Proteste entstehen erst, wenn das System schon schwächelt. Etwa, indem sich die Elite abwendet. Putins Rede enthielt viele Angebote, um sich ihre Loyalität zu erkaufen. Allen wurde gedankt, der Gesellschaft, dem Militär, den Freiwilligen, den Banken, der Industrie, den Unternehmen, der Regierung, der Landwirtschaft. Es geht darum, dir die Loyalität jener zu kaufen, an denen du zweifelst.

ZEIT ONLINE: Ist es denn so, dass die Elite an Putin zweifelt?

Schulmann: Wem wurde in dieser Rede am wenigsten versprochen? Dem Militär. Ich lese das so, dass Putin davon ausgeht, dass von ihnen die geringste Gefahr ausgeht. Sondern eher von der zivilen Verwaltung, von der Bevölkerung.

"Putin wollte einen Regimewechsel erzwingen"

ZEIT ONLINE: Putin hat mehrmals mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht, jetzt wird auch das New-Start-Abkommen ausgesetzt. Wie groß ist die Gefahr, dass Russland Atomwaffen einsetzt, wenn die russischen Soldaten in der Ukraine noch stärker unter Druck geraten?

Schulmann: Etwas, was physisch möglich ist, ist auch politisch möglich. Aber ist es auch wahrscheinlich? In der russischen Nukleardoktrin steht, dass Atomwaffen nur dann eingesetzt werden dürfen, wenn die Existenz des russischen Staates gefährdet ist. Aber was passiert, wenn das System plötzlich wirklich gefährdet ist – was wird sich die Elite dann denken? Werde ich den Anführer bis zum bitteren Ende verteidigen, oder sollte ich nicht vielleicht doch meine eigene Haut retten? Es ist nicht so, wie in den Filmen: Du drückst den roten Knopf und das war's. Die Frage ist, ob in so einer Situation die Menschen in der Befehlskette bereit sein werden, zu kooperieren. Da habe ich meine Zweifel.

ZEIT ONLINE: Denken Sie, dass sich Putins Ziele in der Ukraine in den vergangenen Monaten geändert haben? Eine komplette Einnahme der Ukraine scheint quasi ausgeschlossen.

Schulmann: Putin wollte die Ukraine nicht besetzen, sondern eine prorussische Regierung in Kiew installieren, um die Menschen gegen vermeintliche "Nazis" zu verteidigen. Sie wollten genau das tun, was sie den USA immer vorwerfen: einen Regimewechsel erzwingen. Ich glaube, dass diese prorussische Regierung noch Putins Ziel ist. Auch die gezielten Angriffe auf die Energieinfrastruktur weisen in diese Richtung: Die ukrainische Bevölkerung sollte damit gegen ihre eigene Regierung aufgebracht werden. Nur hat auch das nicht wirklich funktioniert.

ZEIT ONLINE: In Deutschland wird viel darüber diskutiert, ob oder wann es zu Verhandlungen kommen könnte. Wie sehen Sie das? Kann mit Putin in der derzeitigen Situation überhaupt verhandelt werden?

Schulmann: Aus meiner Sicht würde es viel mehr Sinn ergeben, mit seinem inneren Kreis zu verhandeln. Mit wem auch immer das möglich ist. Anders als Putin sind diese Menschen nicht so sehr in diesem Krieg investiert. Im Gegenteil: Der Krieg schadet dem Regime und der Elite.

ZEIT ONLINE: Die russische Elite trägt diesen Krieg nicht mit?

Schulmann: Lassen Sie es mich mit einer Parallele verdeutlichen: In der Geschichtswissenschaft gibt es den Ausdruck: "No Hitler, no Holocaust." Es war vorherzusehen, dass auf die schwache Weimarer Demokratie eine Ein-Mann- Diktatur folgen könnte. Es gab historische Vorbedingungen für diese Entwicklung: die wirtschaftliche Situation, die Enttäuschung, Groll über den verlorenen Krieg. Aber: Die Juden waren Hitlers persönliche Obsession. Die Diktatur war vorhersehbar, aber nicht der Holocaust. Ich möchte Putin jetzt nicht mit Hitler vergleichen, es geht mir hier nur darum, etwas zu verdeutlichen: In Russland gab es auch historische Vorbedingungen, dass die schwache Demokratie der Neunzigerjahre in eine Autokratie mündete. Aber nicht, dass es einen Krieg gegen die Ukraine gibt.

ZEIT ONLINE: Die Ukraine ist also Putins persönliche Obsession?

Schulmann: Absolut. Die Menschen um ihn herum spielen meist nur mit, weil man so nun mal seine Position in einer Autokratie bewahrt.

Patriotischer Pomp im Moskauer Luschniki-Stadion: Wladimir Putin begrüßt Soldaten. © Kremlin Press Office/Handout/Anadolu Agency/ ABACAPRESS/ddp images

ZEIT ONLINE: Also sollte der Westen vielmehr versuchen, an Putins Umfeld heranzukommen?

Schulmann: Ja, warum denn nicht? Es wäre nicht das erste Mal, dass Koalitionen zwischen verfeindeten Staaten geschmiedet werden. Putin ist nur so lange an der Macht, solange die anderen mit ihm gehen. Es ist wie mit dem roten Knopf und allen anderen Dingen: Kein Führer führt allein. Er kann nur so lange führen, solange ihm alle folgen.

ZEIT ONLINE: An wen denken Sie dabei? An jemanden, der sich vielleicht schon von Putin distanziert hat?

Schulmann: Im Gegenteil, ich würde nach Personen suchen, die ihm so nahe wie möglich stehen. Sie können ideologisch ähnlich ticken, aber sich trotzdem hassen. Es ist eine Kalkulation, die diese Menschen rund um die Uhr beschäftigt: Profitiere ich davon, wie die Dinge laufen? Was ist riskanter – sich zu distanzieren oder weiterzumachen?

ZEIT ONLINE: Sie haben vor fast einem Jahr Russland verlassen und wurden von den russischen Behörden als "ausländische Agentin" eingestuft. Haben Sie Hoffnung, irgendwann wieder nach Russland zurückzukehren?

Schulmann: Selbstverständlich, das gibt mir überhaupt die Kraft, weiterzumachen. Bei der ersten Gelegenheit werde ich zurückkehren, da können Sie sicher sein! Meine Fellowship bei der Bosch-Stiftung endet im April. Ich hatte so darauf gehofft, dass sich bis dahin etwas bewegt. Aber ich fürchte, 2023 wird noch das Jahr der harten militärischen Auseinandersetzungen sein. Als ausländische Agentin darf ich auch nicht in Russland unterrichten. Das ist praktisch ein Berufsverbot. Also vorerst muss ich wohl hierbleiben. Aber wenn sich die Dinge ändern, wird es unsere Pflicht sein, wieder nach Russland zu gehen, um beim Neustart mitzuhelfen.